Diesen Satz höre ich leider immer noch regelmäßig. Und ich kann es sogar ein Stück weit nachvollziehen.
Nach all den Anforderungen, mit denen Unternehmen sich herumschlagen müssen – DSGVO, Cookie-Banner, das Thema Google Webfonts in Österreich, Abmahnwellen in Deutschland – scheint Barrierefreiheit einfach nur wie der nächste Punkt auf einer endlosen To-do-Liste. Noch eine Vorschrift. Noch ein Aufwand der anscheinend nur was kostet und nichts bringt.
Aber das kann und will ich so nicht stehen lassen, denn meiner Meinung nach stimmt das nicht.
Von Pixeln zum flexiblen Design
Wenn du diesen Beitrag hier siehst, dann hast du es schon weit geschafft, zumindest technisch gesehen. Egal, ob du gerade am Smartphone oder am großen Bildschirm bist: du kannst den Inhalt erfassen oder dir sogar vorlesen lassen.
Das war nicht immer so.
Als Designerin erinnere ich mich noch gut an die Anfänge des Responsive Designs. Früher wurden Websites meist für bestimmte große Bildschirme gestaltet: fest, starr, unflexibel. (Und „groß“ bedeutete damals auch noch etwas anderes als heute.)
Mit dem Smartphone musste eine Veränderung her, denn die starren Layouts waren auf mobilen Geräten kaum nutzbar. Dank Responsive Design können sich die Inhalte je nach Bildschirmgröße anpassen. Und das funktioniert auch ganz gut.
Heute ist Responsive Design selbstverständlich. Weil wir wissen, dass es sich lohnt. Man erreicht mehr Menschen auf mehr Geräten: fast jede:r hat ein Smartphone und es gibt verschiedenste Arten von Laptops und Desktop-PCs mit unterschiedlichen Darstellungseinstellungen.
Barrierefreies Design geht einfach einen Schritt weiter.
Es sorgt dafür, dass Websites nicht nur auf noch mehr verschiedenen Geräten funktionieren, sondern auch für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen.
Größerer Text. Klare Struktur. Hohe Kontraste. Verständliche Sprache. Tastaturbedienung. Screenreader-Kompatibilität. Barrierefreies Design sorgt dafür, dass soviele Menschen wie möglich digitale Angebote nutzen können. Unabhängig von Geräten, Einschränkungen, Umständen oder Fähigkeiten.
1 of 2: jede:r Zweite ist (irgendwann) betroffen
Im Juli 2025 war ich beim IKT-Forum an der Johannes Kepler Universität in Linz, eine inklusive Veranstaltung, die viele Perspektiven zusammenbringt. Eine Aussage dort hat mich sehr nachdenklich gemacht: „1 of 2“. Das bedeutet, jede:r Zweite hat irgendwann, zumindest vorübergehend, eine Einschränkung, die den Zugang zu digitalen Anwendungen erschwert.
Das kann vieles sein:
- eine Migräne
- ein Kind auf dem Arm
- ein Gips am Handgelenk
- ein Aufenthalt im Ausland mit ungewohnter Sprache
- nachlassende Sehkraft
- mentale Überlastung
- uvm.
Als ich zum ersten Mal einen Lehrgang zum Thema digitale Barrierefreiheit gemacht habe, hat man uns die Zahl von ca. 20 Prozent gesagt. Das ist auch schon eine beeindruckend große Zahl, doch damit wurden lediglich die Menschen erfasst, die anerkannte Behinderungen haben.
Viele Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen im Alltag haben offiziell gar keine Behinderung. Beispielsweise weil die Beeinträchtigungen nur vorübergehend sind oder weil die Diagnostik schwierig ist.
Und dann gibt es noch die vielen situativen Einschränkungen wie Migräne, eine Verletzung an der Hand oder Schwierigkeiten mit der (fremden) Sprache.
„Wenn es nicht funktioniert, geh ich woanders hin.“
Für viele Menschen ist das ein ganz normaler Reflex: Die Website lädt nicht richtig, das Formular hakt, der Bestellprozess ist kompliziert – also klickt man sich weg und sucht sich eine bequemere Alternative.
Menschen ohne Beeinträchtigung haben dabei die freie Wahl. Sie können shoppen, wo es für sie am angenehmsten ist: im Geschäft, im Internet, am Flohmarkt, uvm. Für Menschen mit Behinderungen sieht das ganz anders aus. Da geht es nicht nur um Komfort, sondern auch um echte Hürden, die den Zugang unmöglich machen. Die Wahl, einfach jederzeit „woanders hinzugehen“, haben viele oft gar nicht.
Gerade deshalb nutzen diese Menschen das Internet besonders intensiv, vor allem wenn der Gang ins Geschäft, zum Amt oder zur Beratung vor Ort deutlich mehr Kraft kostet oder gar nicht machbar ist. Online-Angebote sind für sie nicht nur praktisch, sondern manchmal die einzige Möglichkeit, selbstbestimmt zu handeln.
Wenn deine Website oder App für sie nicht funktioniert, sind sie weg. Leise, ohne Feedback, ohne Hinweis. Nur wenn es keine Alternative gibt, versuchen sie vielleicht, sich durchzubeißen oder melden sich mit einer Rückmeldung.
Hand aufs Herz: Was würdest du tun? Würdest du dem/der Anbieter:in schreiben, dass die Seite nicht gut bedienbar ist? Vielleicht bei deinem Lieblingsshop. Und bei irgendeinem x-beliebigen Angebot?
Barrieren im Netz sind oft unsichtbar für die, die sie nicht betreffen und genau deshalb bleiben sie oft unbeachtet. Aber sie sind da. Und sie vertreiben die Kund:innen.
Barrierefreiheit ist kein Kostenfaktor, sondern ein Wettbewerbsvorteil
Einer der häufigsten Einwände, die ich höre: „Das kostet doch nur Geld.“
Das stimmt nur, wenn man Barrierefreiheit als lästige Pflicht sieht statt als das, was sie wirklich ist: eine Investition in bessere Nutzererlebnisse, mehr Sichtbarkeit und nachhaltigen Geschäftserfolg.
Barrierefreies Design verbessert die Usability für alle, nicht nur für Menschen mit Behinderungen. Klare Strukturen, verständliche Sprache, bessere Lesbarkeit, intuitive Navigation – wer mag das nicht? Gleichzeitig deckst du mit barrierefreier Umsetzung eine Vielzahl an Geräten, Nutzungssituationen und Bedienarten ab. Du machst deine Website robuster.
Barrierefreiheit verbessert auch dein SEO-Ranking. Warum? Weil viele Anforderungen der WCAG und der technischen Barrierefreiheit (wie semantischer HTML-Code, Alternativtexte, beschreibende Links, klare Überschriften-Hierarchien) genau die Dinge sind, die Suchmaschinen lieben. Was für Screenreader gut ist, ist oft auch für Google & Co. gut.
Das führt ganz konkret zu:
- niedrigeren Absprungraten
- besseren Conversion-Raten
- mehr Sichtbarkeit in Suchmaschinen bzw. KI-Ergebnissen
- und insgesamt zufriedeneren Nutzer:innen
Barrierefreiheit zahlt sich aus, für deine Zielgruppen, deine Marke und letztlich deinen Umsatz.
Wer sie ignoriert, schließt nicht nur Menschen aus, sondern auch Reichweite und Relevanz.
Barrierefreiheit ≠ Intelligenzfrage
Es passiert erschreckend schnell, oft ohne böse Absicht: Wenn jemand sich anders verhält, anders kommuniziert oder langsamer reagiert als erwartet, wird das als „komisch“ empfunden. Oder schlimmer: als dumm, als überfordert oder als nicht ganz richtig im Kopf.
Diese Gedanken huschen vielen Menschen durch den Kopf, unausgesprochen und wirkungsvoll. Und sie sind grundfalsch.
Denn Einschränkungen, ob körperlich, sensorisch, psychisch oder kognitiv, sagen nichts über Intelligenz oder Urteilsvermögen aus. Und schon gar nichts über den Wert eines Menschen. Die Idee, dass „langsamer“ gleich „dümmer“ bedeutet, ist nicht nur falsch, sie ist eine bequeme Erklärung für etwas, das wir nicht gewohnt sind.
Das eigentliche Problem ist nicht die Behinderung, sondern dass wir wenig Begegnungen mit Menschen haben, die nicht aus unserem direkten Umfeld sind. Dass wir nicht miteinander sprechen, denn Menschen mit und ohne Behinderung leben oft in völlig getrennten Welten.
Es fehlt an echten Begegnungen, an Alltag, an Dialog. Und wo kein Austausch stattfindet, entstehen Unsicherheiten und es fehlt an Wissen und Erfahrungen. Und wo Unsicherheit und Unwissenheit herrscht, wachsen Vorurteile.
Und ja, auch ich kenne diese inneren Reflexe. Dieses kurze, irritierte Zögern, wenn jemand sich „anders“ verhält. Das darf aber kein Dauerzustand sein. Wenn wir echte Inklusion wollen, müssen wir diese Vorurteile erkennen, ansprechen und abbauen. Nicht aus Mitleid, sondern für Gleichstellung und eine vielfältigere Welt.
Vielfalt schafft neue Perspektiven
Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Erfahrungen und Lebensrealitäten bringen andere Sichtweisen mit. Sie stellen Fragen, die anderen nicht in den Sinn kommen. Sie hinterfragen Dinge, die für die Mehrheit als „normal“ oder „logisch“ gelten, einfach, weil sie aus einer anderen Realität heraus denken und handeln.
Und genau darin liegt eine enorme Stärke: Nur wer andere Perspektiven zulässt, erkennt blinde Flecken und findet neue, bessere Lösungen.
Vielfalt ist kein Störfaktor sondern ein Innovationsmotor. Barrierefreies Design macht digitale Produkte robuster, verständlicher und zugänglicher für alle.
Und wir alle profitieren davon. Denn was für Menschen mit Einschränkungen notwendig ist, ist für alle anderen oft einfach nur: besser.
Von jetzt auf gleich
Die meisten Einschränkungen entstehen im Laufe des Lebens oft plötzlich und unerwartet. Ein Unfall. Eine Diagnose. Eine Operation, die nicht wie geplant verläuft. Oder schlicht: der natürliche Alterungsprozess.
Und dann? Von einem Moment auf den nächsten wird aus Selbstverständlichem ein Hindernis. Der Alltag wird zur Herausforderung, das Leben ein anderes als das man bisher kannte. Dinge, die man gestern noch nebenbei erledigt hat, werden plötzlich zur Kraftprobe oder unmöglich.
Digitale Angebote, Websites, Apps, Online-Dienste, können in solchen Situationen zum Rettungsanker werden. Ich habe das selbst erlebt. In einer Phase, in der ich verletzt war und über Jahre hinweg nur wenig tun konnte, war das Internet mein wichtigstes Tor zur Außenwelt. Es hat mir Kontakt zu anderen Menschen, Selbstständigkeit und ein Stück Normalität gegeben und verhindert, dass mir die Decke völlig auf den Kopf fällt.
In solchen Zeiten braucht es Lösungen, die einfach funktionieren. Sofort. Nicht „irgendwann“, nicht „wenn mal Zeit ist“. Barrierefreiheit darf kein Projekt für später sein. Kein freiwilliges Bonusfeature, das man angeht, wenn mal Zeit und Budget übrig ist.
Denn: Wer jetzt ohne Einschränkungen lebt, kann in der nächsten Sekunde schon darauf angewiesen sein, dass digitale Angebote auf mehreren Wegen zugänglich sind. Das ist keine Panikmache sondern Realität. Eine Realität, auf die man sich vorbereiten kann.
Barrierefreiheit betrifft nicht „die anderen“. Sie betrifft uns alle. Entweder jetzt oder irgendwann. Ob als Betroffene:r oder als jemand, der unterstützen will.
Je früher wir das begreifen, desto besser sind wir vorbereitet. Für andere, für uns selbst und für eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt, wenn das Leben anders verläuft als geplant.
Fazit: Nicht lästig, sondern sollte zum Standard werden
Digitale Barrierefreiheit ist kein lästiger Mehraufwand. Sie ist ein Ausdruck von Respekt. Von Professionalität. Und von Weitsicht.
Barrierefreiheit bedeutet, Menschen nicht auszuschließen, ganz gleich, ob sie von Geburt an mit einer Behinderung leben oder im Laufe des Lebens kurzfristig Einschränkungen erfahren oder für den Rest ihres Lebens.
Darum ist sie kein „Nice-to-have“, sondern ein „Must-have“, das uns alle früher oder später betrifft. Sie schafft Zugang. Sie schafft Teilhabe. Und sie schafft Sicherheit, für andere und für uns selbst.
Barrierefreiheit bedeutet, sich für Vielfalt zu öffnen. Unterschiedliche Bedürfnisse ernst zu nehmen. Und Verantwortung zu übernehmen, für ein Web, das niemanden zurücklässt.
Wenn du dich also fragst: „Muss ich das wirklich alles machen?“,
dann stell dir auch die Gegenfrage: „Wen bin ich bereit auszuschließen – und warum?“
Denn am Ende geht es nicht nur um Technik oder Design. Es geht um Haltung. Und um die Entscheidung, ob wir Menschen mitdenken oder nicht.
Danke! Diese Haltung, bei der wir uns aufrichtig bemühen, andere mitzudenken, sollte wirklich selbstverständlich sein. Und wie du sagst, je mehr wir uns untereinander begegnen, umso mehr nehmen wir uns gegenseitig wahr. Und dann verstehen wir auch umso mehr, warum Barrierefreiheit sinnvoll ist und keine aufgezwungene Extraarbeit.
Liebe Grüße
Angela
Herzlichen Dank für deine Worte liebe Andrea!
Genau so ist es. Je mehr wir aufeinander zugehen, desto besser verstehen wir unsere unterschiedlichen Perspektiven und Bedürfnisse. Ich wünsche mir, dass wir so nach und nach Barrieren abbauen.
Liebe Grüße,
Marion